Zum Salone del Gusto ins Piemont
Genussreise durch das Piemont
Liegt es an Carlo Petrini, dem Gründer von Slow Food oder an den erstklassigen Nebbiolo-Weinen aus Barolo, Barbaresco und anderen Dörfern der hügeligen Langhe? Vielleicht, aber auch sonst verbinden sehr viele Menschen mit dem Piemont das Wort GENUSS – und das in einem Land wie Italien, wo quasi an jeder Ecke leckere herkunftsgeschützte Spezialitäten auf Genießer lauern.
Der heute 73-jährige Soziologe und Publizist Petrini stammt aus dem Piemont. Genau genommen aus dem kleinen Städtchen Bra, unweit von Turin, wo er als Stadtrat der Partito di Unità Proletaria tätig war. Auslöser für die Gründung von Slow Food war die Eröffnung einer McDonalds-Filiale an der römischen Piazza Navona, der Petrini ein großes öffentliches Spaghetti-Essen an der Spanischen Treppe entgegensetzte. Ersten engeren Kontakt mit Slow Food hatte ich vor rund 20 Jahren. Ich lernte damals als Juror der Gourmet Voice in Cannes deren damalige Vize-Präsidentin Alice Waters kennen, der wir für Verdienste um die Ernährungserziehung für Kinder an ihrem Wohnort Berkeley, wo sie das Restaurant Chez Panisse betreibt, den Preis als Gourmet-Kommunikatorin des Jahres verliehen. Sie ist Pionierin der Bio-Lebensmittel in den USA und fordert auch von den Schulkantinen den Einsatz regionaler und saisonaler Lebensmittel, um umweltschädliche weite Transporte zu vermeiden, die zu schlechteren Produkten für die Verbraucher führen.
Cheese und Salone del Gusto Gastro-Highlight
Petrinis Heimatstadt Bra ist auch der Ort, an dem ich erstmals eine Slow-Food-Messe besuchte – die Käsemesse Cheese, bei der die engen Straßen und Gassen des kleinen Orts prall mit Besuchern aus aller Welt gefüllt waren, die sich über Käsespezialitäten informierten, die es zum Teil auf die Arche des Geschmacks geschafft hatten, auf der Slow Food weltweit schützenswerte Lebensmittel, Nutztiere, Kulturpflanzen und traditionelle Zubereitungsarten vor dem Vergessen und Verschwinden bewahren möchte. Speziell über deren deutsche Passagiere hatte ich in den folgenden Jahren oft berichtet. |
Da präsentieren sich Bäcker, die noch die Traditionen der Familie pflegen, wenn sie in jahrhundertealten mit Holz befeuerten Öfen aus Marmor ihr Brot bei sehr hoher Temperatur backen, ohne die heute geltenden und von den Lobbyisten politisch durchgedrückten Hygienevorschriften zu verletzen, mit denen man vielen Traditionsbetrieben den Garaus gemacht hat. Schade, denn wenn man die Produkte probiert, ist jeder fasziniert von der kräftigen Kruste, die durch die massive Hitze keine Blasen aufwirft. |
Was kann Slow Food politisch bewegen?
Insofern versucht Slow Food ihrerseits Lobbyarbeit zu betreiben und die Institutionen der EU und der einzelnen Länder davon zu überzeugen, Fördergelder nicht schnell und einfach an die Großindustrie zu verteilen, sondern damit gezielt das Handwerk zu fördern. Einige Großunternehmen haben inzwischen gelernt, dass man an den von Slow Food formulierten Wünschen einiger engagierter Kunden nicht achtlos vorübergehen sollte. So ist zum Bespiel das Kaffee-Imperium der Familie Lavazza eine Zusammenarbeit mit der Umweltorganisation "Rain Forrest Alliance" eingegangen, um in Südamerika und Äthiopien ihr Topprodukt "Terra" fair und nachhaltig herstellen zu lassen und sich sozial zu engagieren. So etwas ist sicherlich in einem Familienunternehmen leichter umzusetzen, als in einem globalen Konzern, der den Wünschen der am kurzfristigen Profit ausgerichteten Shareholder gerecht werden muss. Mit weltweit rund 100.000 Mitgliedern ist Slow Food kein Riese, doch seine Tochter Terra Madre als Netzwerk der Lebensmittel Viel einflussreicher als Slow Food ist die Terra Madre, ein Netzwerk mit zwei Millionen Mitgliedern, die entlang der Lebensmittelwertschöpfungskette (ein Unwort) tätig sind und sich für ein Menschenrecht für gute, sauber und fair hergestellte Lebensmittel einsetzt. |
Terra Madre hat in den Jahren an Bekanntheit zugenommen. Piemont erweist sich dabei als perfektes Ziel für jeden Feinschmecker, denn zusammen mit seiner Hauptstadt Turin ist es Botschafter der italienischen Ess- und Weinkultur, verfügt über einen historischen Ruf und Produkte, deren Qualität überzeugen. Sei es bei der Schokolade, den Haselnüssen bis hin zum Reis, der in Europas größten Reisfeldern zwischen Vercelli, Novara und Biella angebaut wird. Als ich vor einigen Jahren bei einem Besuch auf den chinesischen Reisefeldern den dortigen damals fast 90-jährigen Nationalhelden Yuan Longping traf, der der Erforschung der Reiszucht sein gesamtes Berufsleben gewidmet hat und in seiner Heimat als "Vater des Hybridreises" bekannt war, der in den 1970er Jahren mit seinem gekreuzten Reis und einem 20 Prozent höheren Jahresertrag viele Menschen vor dem Hungertod rettete, war dieser Kenner der Reissorten rund um den Globus ganz begeistert von dem piemontesischen Reis und sagte, dass wir Europäer glücklich darüber sein können. Auch die große Vielfalt an handwerklich hergestellten Käsesorten, wie der Hartkäse Bra Duro, der mit Grappa fermentierte Bruss, der intensive Castelmagno, der gerne für Käsefondues verwendete Fontina aus dem Aosta Tal, der Blauschimmelkäse Gorgonzola aus Novara, der Frischkäse Murazzano, der fette Ossolano, der Alpkäse Raschera, der milde, weiche Robiola di Roccaverano und Toma Piemontese. |
Das weiße Gold des Piemont
Eine der kulinarischen Highlights des Piemonts durfte ich schon vor einigen Jahren zusammen mit ein paar Hunden und deren Besitzern erkunden: die weiße Alba-Trüffel. Man findet sie zum Glück nicht nur in und um Alba, obwohl sie dort gerne im Herbst die Gerichte verfeinert, wenn im ab Oktober am Ort die Internationalen Messe und der Weltmarkt für Weiße Trüffel gefeiert wird. Das „weiße Gold des Piemont“ nennt man sie gerne und sie kann fein gehobelt einen Teller frische handgemachte Pasta, ein Risotto oder ein Ei in ein Gourmet-Erlebnis verwandeln. Ich hatte mich damals am frühen Morgen auf die Suche nach diesem verborgenen Schatz gemacht, hatte die Umgebung erkundet, die er benötigt und mir von den Traditionen und Legenden erzählen lassen. Die Trüffelsuche, die Verkostung zusammen mit lokalen Spezialitäten und Wein sind eine einzigartige Erfahrung der Natur, der beeindruckenden Umgebung, der Wälder und mancherorts kann man sie heutzutage auch buchen. Zum Beispiel beim Nationalen Studienzentrum für Trüffel. Geführt wird man dabei von einem professionellen Trifulau und seinem speziell ausgebildeten Hund, den man im Piemont Tabui nennt.
Piemont und seine Weine
Ich war damals der Einladung des Weinguts Tenuta La Tenaglia gefolgt, dass nur wenige Meter unterhalb eines der Schätze des UNESCO-Weltkulturerbes des Piemonts liegt, dem Sacro Monte di Crea, einem der heiligen Hügel des Monferrato. Das angesehene Weingut gehört Sabine Ehrmann. Die kam im Jahr 2004 recht überraschend zu dem Weingut, dass eigentlich ihren Eltern als zeitweiser Alterssitz dienen sollte, nachdem ihre Mutter starb und ihr Vater Alois lieber weiterhin den Überblick über die Familienmolkerei im Allgäu behalten wollte, aus der gut jeder achte in Deutschland ausgelöffelte Joghurt stammt. Sabine lebte bereits seit Jahren in Italien, sprach perfekt Italienisch, war auf Ischia mit dem Maler Giuseppe Olivieri verheiratet und hatte Kinder, die mit Land und Kultur vertraut sind. So wurde die Weinliebhaberin quasi über Nacht zur Winzerin. |
Mit 43.500 Hektar Rebfläche steht das Piemont für seine prestigeträchtigen, aus Nebbiolo gewonnene Rotweine wie Barolo, Barbaresco, Gattinara und Ghemme, für Barbera Nera und Brachetto d'Acqui und für Weißweine wie Roero Arneis, Gavi, Asti Spumante und Moscato d'Asti. Nicht vergessen sollte man auch den Nascetta, der das Zeug hat zu einem ebenbürtigen weißen Gegenspieler der edlen Nebbiolo-Weine zu werden. Die autochthone Rebe wird nur in kleinen Mengen in Langhe angebaut, nachdem viele Weinberge zugunsten anderer ertragsstärkerer Rebsorten aufgegeben wurden. Heute findet man sie mit etwa 20 ha rund um das Dorf Novello. Es lohnt sich, sie bei einem Besuch auf der Weinkarte zu suchen. Mit nur 4 bis 4,5 hl/ha ist der Ertrag eher gering. Die Weine begeistern durch ihren frischen Charakter mit Anklang von Akazienblüte, Salbei, Rosmarin und Zitrone und erinnern mit kräftiger Frucht manchmal an ‘Muskat’. Ein Wein mit Alterungspotenzial, der erst seit einem Vierteljahrhundert langsam wieder aus Versenkung emporsteigt, nachdem er zuvor jahrzehntelang in Vergessenheit geraten war. |
Nas-Cetta
Turin als Schokoladen-Hochburg
Lange Zeit hatte ich einen Bogen um die piemontesische Hauptstadt gemacht. Ich vermutete dort eher rauchende Schlote und industrielle Ödnis. Auch die ersten Filme änderten daran nichts: Torino Nera, ein Mafiafilm mit Bud Spencer als Sizilianer, der unschuldig wegen eines Mords in seiner Nähe verurteilt wird und auf Rache sinnt oder Lina Wertmüllers Film über den Metallarbeiter Mimi, gespielt von Giancarlo Giannini, der merkt, dass die Mafia nicht nur in seiner sizilianischen Heimat, sondern auch in Turin mächtig und gefährlich ist. Über ein Jahrhundert lang spielte Fiat eine wichtige Rolle in der gesamten Region und als ich später bei einem Empfang im Metropolitan Museums in New York dessen damaliges Stiftungsratsmitglied, den meist unter seinem Spitznamen „l’avvocato“ bekannten Fiat-Chef Giovanni Agnelli kennenlernte, verbesserte sich der Eindruck nicht. Als Anfang der 90er Jahre mit den „Mane pulite“, was man sinngemäß mit „weiße Weste“ übersetzen könnte, eine Welle von Ermittlungen über Politiker und Manager hereinbrach, blieb „l’avvocato“ unversehrt, zog sich aber aus dem Tagesgeschäft zurück. Inzwischen ist Agnelli tot, Fiat ist in Stellantis aufgegangen und viele der Industriebetriebe sind abgewandert, haben fusioniert und haben industrielle Brachen, wie den Parco Dora hinterlassen. Andere, wie die alten Fabrik und das Wohngebäude von Olivetti sind inzwischen Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Das hat auch der Luft im Tal des Po gut getan. |
Mit hochwertigen Zutaten und großer Erfindungsreichtum wurde Turin schon seit dem 16. Jahrhundert zur europäischen Hauptstadt der Schokoladenherstellung. Damals kam der Kakao mit dem Savoyer-Herzog Emanuele Filiberto ins Piemont. Der auch „Eisenschädel“ genannte Regent, der auch das berühmte Turiner Grabtuch in die Stadt brachte, stand damals in den Diensten seines Habsburger Großonkels Kaiser Karl V. Spanien hatte damals als erstes europäisches Königreich die "Speise der Götter" aus Mittelamerika nach Europa gebracht. Später wurde es nicht nur als flüssig-heiße „Cioccolada calda“ angeboten, sondern auch in fester Form und eroberte so schnell die Herzen und Gaumen der Liebhaber. Die Tafeln wurden damals in den Geschäften "geschnitten" verkauft, aber man schuf auch Spezialitäten wie Cremino oder Torinese und Füllungen wie Alpino, Favorito und Preferito, Pralinen, Trüffeln und Cri-cri. |
Kaffee, Kakao oder beides zusammen der Bicerin
Viele Turiner lassen es sich nicht nehmen, in den Cafés der königlichen Residenzen und in den historischen Cafés im Zentrum mit der Merenda Reale eine üppige Pause einzulegen und dampfende heiße Schokolade aus der Tasse zu schlürfen, in die man Baci di dama aus mit Schokolade und Haselnussmehl, duftendes Schokoladengebäck Diablottini und die kleinen Gebäckstücke Bignole, die man mit einem Bissen genießen kann, eintauchen kann. |
Ich muss deshalb erst einmal mit dem Aufnahmeleiter diskutieren, damit er mich durchlässt, denn ich habe im Café ein Treffen mit Turins Bürgermeister Stefano Lo Russo, der die Stadt seit 2021 mit einer Mitte-links-Koalition leitet. Eigentlich ist Lo Russo im Hauptberuf Geologie-Professor und lehrte zuvor Geothermie am Turiner Polytechnikum, Italiens bester Technischer Hochschule. |
Street Food in Turin
Welche Unterschiede es macht, welches Mehl man verwendet, erfahre ich bei einem kurzen Besuch in der 2010 gegründeten Bäckerei Perino Vesco Fornai von Andrea Perino und Chiara Vesco in der Via Cavour. Andrea nimmt mich mit in die Backstube, wo seine eifrigen Mitarbeiter wuseln. Er verwendet in seinem Betrieb eine Auswahl an steingemahlenem, biologischem Mehl, das fast ausschließlich aus Vollkorn gemahlen wird. Dabei ist die Idee des Ehepaars, die Traditionen der weißen Kunst zu respektieren, aber sie an zeitgenössische Trends und Ernährungsbedürfnisse anzupassen. Das unterschiedliche Mehl ist dabei der absolute Hauptdarsteller. Meist ist es Vollkorn von Dinkel, Hafer, Gerste und Roggen. Andrea backt das Brot ausschließlich mit natürlicher Hefe und stellt davon auch die Sandwiches her, die Turiner gerne auf die Hand zum Mittagessens genießen. 20 Sandwiches hat er immer im Angebot, wobei das Angebot je nach Saison wechselt. Köstlich die auch gerne mit Wurst oder Käse servierten Grissini mit Wasser oder Öl, die nach der Überlieferung vom Hofbäcker der Savoyer im Jahr 1679 erfunden wurden, da der zukünftigen König Victor Amadeus II. aus gesundheitlichen Gründen Schwierigkeiten mit der Verdauung hatte. |
Das längliche, knusprige, krümelfreie Brot tat ihm gut und wurde so schnell zum Erfolg. |
Zu Gast bei den Maestri del Gusto
Jedes Jahr wählt die Turiner Industrie- und Handelskammer zusammen mit Slow Food die Maestri del Gusto, die Meister des Geschmacks. Einige davon konnte ich bei meinem Besuch von Turin und Umgebung besuchen. Die Latteria Bera ist ein kleines historisches Geschäft im Stadtzentrum, das an die Molkereien von einst erinnert, als man noch Milch in kleinen Kannen nach Hause lieferte. 1918 gegründet und 1958 von ihrer Großmutter übernommen, der Carlo Petrini in einem seiner Bücher ein Kapitel gewidmet hat, setzt seit 2016 Enkelin Chiara die Arbeit fort. Auch in dieser „Impresa Storica d’Italia“, eine Auszeichnung mit der man historische Geschäfte auszeichnet hat die Lebensmittelüberwachung der nicht abgepackten Milch zwischenzeitlich durch strenge Auflagen ein Ende bereitet. Heute locken hauptsächlich die unterschiedlichen Käsesorten durch die beiden Schaufenster die Kunden an. Chiara sucht stets kleine Erzeuger und kann von denen eine beeindruckende Auswahl regionale Käsesorten präsentieren. Dem internationaler gewordenen Geschmack ihrer Kunden folgend, sind es zwischenzeitlich auch einige Käsespezialitäten aus dem benachbarten Ausland. Da findet man neben den weiter oben schon erwähnten Käse auch alpinen Bettelmatt aus dem Val Formazza, den Stiefmütterchen-Käse Plaisentif, den wie eine Pyramide aufgebaute Käsetorte Montebore, den uralten Hartkäse Bagòss, den Ricotta Seirass und den Almkäse Grasso d'alpe, aber auch wunderschöne lange gereifte Parmesanräder, von denen sich die Kunden eine Ecke abschneiden lassen können. Eine Leuchtreklame wirbt für "Panna montata", Schlagsahne, die man hier frisch geschlagen kaufen kann. Auch mit Zabaglione kann man sie mischen, sie ist sehr lecker und es gibt kaum einen besseren Ort dafür, denn in der benachbarten Kirche San Tommaso hat nach der Legende San Pasquale Baylon oder San Bajun diese köstliche Süßspeise erfunden. |
Nicht nur die Köche des einstigen Fiat-Lenkers Giovanni Agnelli schätzen die Kompetenz und das erlesene Angebot des kleinen Ladens. |
Rundgang durch das royale Turin
Turin beherbergt eine große Zahl erstaunlicher königlicher Residenzen und man bedauert schnell, wenn man nicht ausreichend Zeit mitgebracht hat, um sie auch in den Feinheiten zu erkunden, denn ihr Inneres lohnt durch die darin enthaltenen Museen oft einen mehrstündigen Besuch. Die Könige und Herzöge Savoyens hatten ein geberfreudiges Händchen, um die besten Künstler und Handwerker an ihren Hof zu holen und ihren Reichtum zu präsentieren. Oft findet man dort auch die rund um die Welt „angesammelten“ Schätze. |
Auch wenn es in Turin regnet, was auch bei meinem Besuch öfter vorkam, wird man nicht zwangsläufig nasse, denn die Portici, die eleganten Arkaden entlang der wichtigsten größeren Straßen erlauben das Flanieren auch bei Regen. Es erinnert etwas an den Pariser Einfluss. Zum großen Teil sind sie durchgehend miteinander verbunden und haben eine Gesamtlänge von mehr als 18 Kilometern. So kann man in einem der historischen Cafés auch bei schlechtem Wetter seinen Aperitif im Freien genießen. |
Die Wermut-Tradition Turins
Gut gefallen hat mir das Angebot der Initiative „Extra Vermouth“, das Stadt und Provinz zusammen mit dem Consorzio del Vermouth di Torino ins Leben gerufen haben. Zwar tranken schon die alten Ägypter mit Kräutern versetzten Wein, der auch gerne, wie Hippokrates berichtete, als Heilmittel gegen Gelbsucht und Tetanus eingesetzt wurde, doch die Wermut-Tradition der Neuzeit stammt wohl aus dem Königreich Savoyen, wo Antonio Benedetto Carpano das aromatische Getränk seit 1786 in Turin zubereitete. Seinen Namen verdankt er dem Wermutkraut, das durch bittere Aromastoffe den Geschmack prägt. Es war wohl als Alternative zum Rotwein gedacht und entstand durch Zugabe von Zucker, Karamell und zahlreichen anderen Kräutern. Ein echter Renner, der dafür sorgte, dass Carpanos Laden rund um die Uhr geöffnet war. Eine trockenere weiße Variante entstand später in Frankreich. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Vermouth zunehmend unpopulär, da man ihn mit als Wermutbrüder bezeichneten Stadtstreichern verband. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist seine Renaissance angesagt und allein in der Mitte des letzten Jahrzehnts entstanden weltweit mehr als 100 neue Marken. Guter Grund der Rückkehr der historischen „Merenda sinoira“, der Stunde des Wermuts, der auch in Italien seinen Namen vom Deutschen herleitet.
Zahlreiche Lokale haben sich der Initiative angeschlossen und bieten für 18 Euro „Extra-Vermouth“ an, drei Degustationen von Wermut aus Turin gepaart mit 4 Degustationen typisch piemontesischer Gerichte, die an die Merenda Sinoira erinnern mit einem süßen Abschluss in Form eines Bignole.
Kulinarische Topadressen
Turin und das Piemont sind prall gefüllt mit guten, sehr guten und sogar mehr als einem Dutzend mit Michelin-Sternen ausgezeichneten exzellenten Trattorien und Restaurants. Ein erstklassiger Ort, um dort die ausgezeichneten lokalen Gerichte zu probieren, wie die Bagna Cauda oder Bagna Caoda genannte Soße auf Knoblauch- und Sardellenbasis, die man mit rohem Gemüse serviert. Übersetzt bedeutet das eigentlich nur warme Sauce, die über das Piemont hinaus auch in der Provence und rund um Nizza sehr beliebt ist. Beim Gemüse nimmt man Möhren, Wirsing, Peperoni, Rübchen, Staudensellerie, Fenchel, Paprika, Frühlingszwiebeln, Radicchio, Chicorée, Topinambur und Champignons. Während des Essens hält man die Sauce auf einem Fojòt aus glasierter Keramik heiß. Manche lieben sie als Vorspeise, andere als Hauptgericht. |
Nicht aus dem Piemont, sondern aus Harrys Bar in Venedig stammt ein anderer Vorspeise-Klassiker: das Carpaccio, doch das wertvolle Fleisch des Piemonteser Rinds eignet sich hervorragend dazu auch in Turin und Umgebung gut gekühlt und hauchdünn aufgeschnitten mit kalter Mayonnaise-Sauce aus Olivenöl, Eigelb, Weißweinessig, Senf, Worcestershiresauce, Zitronensaft, Salz, Pfeffer und etwas Milch serviert zu werden. |
Reis Hochburg des Risotto
Auf halbem Weg zwischen Turin und Mailand liegt inmitten der umgebenden Reisefelder das Städtchen Vercelli. Der nach dem Mont Blanc zweithöchste Gipfel Europas, der Monte Rosa mit der 4634 Meter hohen Dufourspitze, der die Grenze zur Schweiz markiert, liegt in Sichtweite. Man merkt der kleinen Stadt noch immer an, dass sie einst ein reicher und mächtiger Bischofssitz war. Heute gilt der Ort als größter Umschlagsplatz für Reis in ganz Europa. Rund 60 Prozent stammt aus der Po-Ebene. |
Ich besuche dort die Tenuta Colombara von Piero Rondolino, wo mich dessen Sohn Umberto durch die alten Gebäude des riesigen Anwesens führt. Im Jahr 2004 die Familie aus Liebe zur Tradition das "Konservatorium für Reisanbau" gegründet, ein thematischer Museumsrundgang über die italienische Reiszivilisation. Die verschiedenen Werkstätten wie Schmiede, Schreinerei, Sattlerei, Käserei und die Wohnungen der Arbeiterschaft, der Schlafsaal der Erntehelferinnen und die Schule, sind quasi so belassen worden, wie sie einst waren und zeugen dadurch umso lebendiger von der Vergangenheit. |
Durch Ghemme und Gattinara zum Lago Maggiore
Bei der morgendlichen Fahrt nach Norden zum Lago Maggiore dominiert den Blick das beeindruckende Bergmassiv des Monte Rosa oberhalb von Zermatt und Saas-Fee. Nach einer Stunde Fahrt durch die Reisebene erreiche ich mit Ghemme und Gattinara zwei der wichtigen Weinorte dieser Zone des Piemont. Die Geburtsstadt des Schöpfers der Mole Antonelliana bringt in den letzten Ausläufern der Alpen einen beeindruckenden hier Spanna genannten Nebbiolo hervor, der sehr viel weniger bekannt ist als seine Vetter aus Barolo oder Barbaresco, da sie mit 50 ha Rebfläche zu den kleinsten Denominationen Italiens gehört. Seine Gerbstoffe Tannine treten deutlich hervor und der Wein hat auch einen recht hohen Säuregehalt, was sich nach ein paar Jahren der Reife angenehm auswirkt und den Ghemme zum Beispiel von Francesco Brigatti mit dem Oltre il Bosco zum eindrucksvollen Genuss macht. Auf der anderen Seite des aus dem Wallis zum Po fließenden Sestia liegt das bekanntere und fast doppelt so große Alto Piemonte-Weinbaugebiet Gattinara. Auch hier dominiert der Nebbiolo, der teilweise in seiner Wucht von der autochthonen Vespolina gemildert wird. Der Gattinara hatte einen wichtigen Fürsprecher in Kardinal Mercurino Arborio, der aus dem Ort stammte und als Kanzler Kaiser Karl V. den Wein schon Mitte des 16. Jahrhunderts an die europäischen Herrschaftshöfe brachte und seinen langen internationalen Ruhm begründete. Giacomo Conterno hatte schon in Monforte d’Alba ein gutes Händchen für Piemonteser Spitzenweine und führt auch das Traditionsweingut Nervi in Gattinara mit einem Nebbiolo vom Vulkan-Terroir auf den richtigen Weg. Es ist das, was man hier als Cool Climate bezeichnen kann, was den Wein zu einer spannenden Delikatesse macht, die preislich deutlich unter dem Langhe-Niveau liegt.
Für einen schönen Abstecher böte sich jetzt noch ein Besuch des malerischen Lago di Orta, doch ich habe noch einen Termin gemacht und fahre auf direktem Weg über die umgebende Hügelkette herunter an den Lag o Maggiore nach Arona. Die Seemitte markiert bis zur Schweizer Grenze kurz vor Locarno die Grenze zur Nachbarregion Lombardei.
Arona und Carlo Borromeo
Oberhalb von Arona erhebt sich die 23 Meter hohe Kolossalstatue des Heiligen Carlo Borromeo. 1538 wurde der einstige Kardinal und Erzbischof von Mailand in dem Örtchen geboren, wo er einem angesehenen Adelsgeschlecht entstammte. Beim wichtigen Konzil von Trient war er einer der wichtigsten Vertreter der katholischen Reform, mit der man der Reformation im Norden Paroli bieten wollte.
Schon zu Lebzeiten galt der wackere Kirchenmann als Idealtypus des Kirchenfürsten, weshalb er schon ein gutes Vierteljahrhundert nach seinem Tod 1610 von Papst Paul V. heiliggesprochen wurde. Die Statue verdankt die Nachwelt seinem Vetters Federico, der 1624 die Kupferstatue im Auftrag gab. 1697 war die Arbeit vollendet und blieb bis zur Errichtung der Bavaria oberhalb der Münchner Theresienwiese die höchste von innen begehbare Statue. Carlone – oder „Riesenkarl“ nennt ihn der Volksmund nach wie vor. Erst sollte es eine Marmorstatue werden, doch nur aus Kupfer konnte das riesige Werk letztendlich vollendet werden. Zwar folgte auch Federico der päpstlichen Ernennung zum Mailänder Erzbischof, doch die Heiligsprechung blieb dem ebenfalls reform- und kunstfreudigen Kardinal verweht, der mit der Mailänder Biblioteca Ambrosiana eine der bedeutendsten Bibliotheken Europas schuf. Man kann die Statue nicht nur über eine weite Strecke vom See sehen, sondern hat von dort oben auch eine fantastische Aussicht auf den größeren See, wie er in der Übersetzung hieße.
Besuch beim Käsezüchter
Ein paar Meter den Berg hinab und schon bin ich am Ziel meines heutigen Vormittags: der Bottega Guffanti. Dort versteht man sich als Manufaktur für edlen Käses und wenn man im 60 Kilometer entfernten Mailand im Sternelokal ein Risotto mit Parmesan für 42 Euro löffelt, dann darf der verwendete Käse auch schon mal 100 Monate gereift sein, deutlich länger als die für den extra straveccione geforderten sechs Jahre. Heute steht Carlo Guffanti Fiori mit seinen Söhnen Giovanni und Davide dem Familienunternehmen vor, in dem schon vor knapp 150 Jahren sein Ururahn Luigi damit begonnen hatte Gorgonzola zu reifen. Dazu hatte der clevere Luigi eine verlassene Silbermine im lombardischen Valganna erworben. In dieser in der Region auch gerne „piccola Siberia“ genannt wird, herrschte in der Mine das ganze Jahr über eine konstante Temperatur und Feuchtigkeit, die den Käse so gut reifen ließ, dass seine Söhne schon zu Beginn des 20 Jahrhunderts bis nach Argentinien und Kalifornien exportierten, zwei Länder mit vielen piemontesischen und lombardischen Auswanderern. Inzwischen ist es die fünfte Generation, die von den Erfahrungen der Ahnen profitieren. Das Wissen um die Lagerung des Gorgonzolas wurde nach und nach auch auf andere Käsesorten übertragen – mit Erfolg. Heute exportiert Guffanti neben Amerika und Europa auch nach Asien und Australien. Bei uns in Deutschland ist er unter anderem beim italienischen Feinkostspezialisten Viani aus Göttingen im Angebot. Einige Blauschimmelkäse reifen in Arona bis zu zwei Jahre. |
Eine Besonderheit und fast so etwas wie ein Urvater aller Käse ist der aus Sardinien stammende Callu de Cabrettu. Eigentlich handelt es sich dabei um Ziegenlab, bei dem man den Labmagen eines noch säugenden Zicklein reinigt mit Muttermilch der Ziege füllt und mit einem Seil zusammenbindet. Im Magen befindet sich bereits das Lab, um den weiteren bis zu vier Monate währenden Reife- und Gärprozess anzuregen. Man findet den Käse wohl nur in der sehr dünn besiedelten Region Ogliastra und selbst dort ist er sündhaft teuer. Nach den Gepflogenheiten schneidet man ihn in Scheiben und ißt ihn auf sardischen Carrasau Brot zusammen mit dem Magen oder brät ihn in Schmalz. Er hat einen intensiven und würzigen Geschmack und passt gut zu einem Wein aus Gattinara. |
Stresa und die Borromäischen Inseln
Gegen Mittag mache ich mich auf den Weg nach Stresa. Dorthin sind es zwar nur knapp 20 Kilometer, aber die Fahrt am Lago Maggiore entlang kann sich hinziehen, denn gerade an sonnigen Herbsttagen zieht es viele Ausflügler an den lohenden See. Quartier habe ich für die letzte Nacht im Piemont im gepflegten 4-Sterne-Hotel La Palma gebucht, das nur durch die Straße vom Lago Maggiore getrennt ist und schöne weite Blicke über einen Großteil des See erlaubt. Das befindet hat einen eigenen Privatstrand und liegt nur 200 Meter vom Ortszentrum entfernt. Stresa gilt als die touristische Hauptstadt des Lago Maggiore und ist umgeben von wunderschönen Gärten und der mondänen Uferpromenade. In Sichtweite liegen die Borromäischen Inseln und auf der lombardischen Uferseite ragen die Bergketten empor. Sein angenehmes Klima macht Stresa bis in den Winter zum gefragten Ziel für entspannte Urlaubstage. |
Apropos Hitze: Besonders im heißen Hochsommer sehr angenehm sind die Muschelgrotten im Untergeschoss, mit hellen und dunklen Stein- und Muschelverzierungen. Draußen im Park warten bereits ein paar weiße Pfaue mit ihrem Nachwuchs auf die Besucher, die die nach antikem Vorbild angelegten pyramidenförmig Gartenanlagen mit ihren Balustraden besuchen. Statuen von mythologischen Helden und Tieren zeigen die Liebe für verspielte Details der Familie Borromeo. Während der Palast und die Parkanlagen im Besitz der Familie sind, haben sich unterhalb der Mauern am Westufer einige Häuser mit Gaststätten, Souvenirgeschäfte und der Schiffsanlegestelle. |
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