Das kleine Restaurant liegt an der Ostecke Spaniens beim Cap de Creus, nur ein paar Buchten südlich von Cadaqués, wo Salvador Dali aus verwitterten Felsformationen Inspiration für seine surrealen Gemälde schöpfte. In den 60er Jahren gegründet, setzte der Weltruhm erst Jahre später ein, nachdem ein katalanischer Marinerekrut dort erste Erfahrungen mit der Sterneküche sammeln konnte und später hängenblieb. Der junge Soldat hieß Ferran Adrià. Zusammen mit dem rührigen Manager Juli Soler sollte er später das Restaurant übernehmen, das noch heute den Namen trägt, den ihm sein deutscher Vorbesitzer nach seinen französischen Bulldoggen gab: elBulli.
Für Adrià ist elBulli mehr als bloß ein Restaurant – für ihn ist es „ein Weg, um das Leben zu verstehen“. Seit seinem Einstieg vor fast einem Vierteljahrhundert hat sich viel getan im Gourmettempel oberhalb der idyllischen Bucht. 1993 beschloss er neue Wege zu beschreiten und mit jeder Zutat dieser Welt zu experimentieren. Von Oktober bis März kreiert der quirlige Workaholic, der nicht nur im Restaurant 15 Stunden am Tag arbeitet, zusammen mit seinem Team im avantgardistischen Labor in Barcelona neue Gerichte. Im Mittelpunkt steht die Idee, nicht wie gehabt Rezepte zu variieren oder Zutaten und Herstellungsarten kreativ zu kombinieren, sondern traditionelle Küchentechniken mit innovativen Herstellungsverfahren und neu entwickelten Arbeitswerkzeugen zu verbinden. Das Ergebnis sind Gerichte mit neuartigen Geschmackscharakteristika und ungewöhnlichen Texturen, wie Gelees aus Gemüse oder Eisplätzchen aus Whiskey. Alles hält Adrià gewissenhaft fest und beschreibt in Jahrbüchern detailliert Kochtechnik und dahinter stehende Philosophie. Nach Jahren der Dekonstruktion von Geschmack und Form, in denen Adrià Espumas hoffähig mache und sich auf die Intensivierung der Geschmackseindrücke süß, salzig, sauer und bitter konzentrierte, folgte ab 2003 das Experimentieren mit der Konsistenz der einzelnen Gänge, bei denen er ironisch mit den Geschmack spielt.
50 Gäste pro Abend können vom 1. April bis 1. Oktober bei elBulli essen, in der Hochsaison Juli und August täglich, doch nur ein Bruchteil der rund 800.000 Reservierungen kann befriedigt werden. Wenn Adrià Reservierungen für das Folgejahr entgegennimmt, sind die raren Plätze blitzschnell vergeben und sorgsam achtet der Chef auf einen gesunden Mix aus Stammgästen und Neuankömmlingen, Einheimischen und Gästen, prominenten und unbekannten Genießern. Ein Menü von 37 Gängen, das im 5-Minuten-Takt im Tapas-Format vom aufmerksamen und – anders als der Patron - vielsprachigen Service aufgetragen wird, lässt diesen nicht zur Ruhe kommen. 250 Euro pro Person muss man für den Abend einplanen, so viel wie für ein ordentliches Hotel in Barcelona oder Madrid.
Seit Mitte Juni gibt es eine weitere Möglichkeit Gast in den hohen Tempel der molekularen Küche zu werden. Documenta 12-Chef Roger M. Buergel hat den katalanischen Spitzenkoch, der es 2003 sogar auf das Titelblatt der angesehenen New York Times geschafft hat und den die internationale Elite der Gastrokritiker ungewohnt einhellig zur No. 1 der Welt-Koch-Charts kürten, eingeladen, seine Kunst im Rahmen der Kasseler Kunstschau (noch bis 23. September 2007) zu präsentieren. Ziel Buergels war es zu zeigen, wie sich „künstlerische Intelligenz in anderen Bereichen manifestiert“. Da er überzeugt ist, dass durch die eingefahrenen westlichen Vorstellungen sonst vieles gerne als Kunsthandwerk abgetan würde, war er froh, den katalanischen Koch für die documenta gewinnen zu können. Groß waren die Hoffnungen im kulinarisch nicht gerade verwöhnten Nordhessen, dass der Vorreiter der molekularen – oder wie Adrià selbst lieber hört avantgardistischen - Küche sein Kochlabor in Kassel aufschlagen würde. Doch die Hoffnungen zerstoben. Buergel findet das Enttäuschungsmoment wichtig, denn es lehre eine wichtige Lektion in der Kunst, dass „man sich nicht alles jederzeit zuführen kann“„Ich kann das gut verstehen, dass die Menschen dort enttäuscht sind. |
Nach der Ankündigung meiner Teilnahme hatten sie erwartet, dass ich dort koche, doch elBulli, die Atmosphäre und die Umgebung konnte ich nicht nach Kassel transportieren“ bedauerte Ferran Adrià im Interview. „Die Küche kann ein Kunstwerk sein, doch die Bühne ist hier: elBulli“. Zusammen mit Buergel fand er eine Lösung und erklärte das Lokal zum „Außenstandort“ der documenta. In den 100 Tagen der Ausstellung wählt Buergel täglich mehr oder weniger willkürlich esslustige Documenta-Besucher aus und schickt sie zu zweit auf einen Tagestrip in die Cala Montjoi. Die Kosten dafür übernimmt zum großen Teil das katalanische Tourismusbüro, das auch in Frankfurt mit eigenem Büro vertreten ist.
Inzwischen sind einige der Erwählten Gäste bei Ferran Adrià gewesen. Adrià erinnert sich an die großen Augen und die neue Erfahrung des malaiischen Künstlers Simryn Gill, der als einer der ersten in den Genuss des Arrangements kam.
Auch Stefanie Kunze, eine 17-jährige Schülerin aus Hildesheim, war bei Adriá. Noch immer aufgeregt schildert der hübsche Teenager wie es dazu kam: „Wir sind mit unserem Kunstkurs nach Kassel gekommen und unsere Lehrerin hat uns durch die Ausstellung geführt. Plötzlich stand ein Paar neben uns und hat unserer Lehrerin zugehört. Die Frau hat ein paar nähere Erklärungen zu dem Bild gegeben, dass wir gerade angesehen hatten. Es war Herr Buergel und Frau Noack. Nach ein paar Minuten kam Frau Noack zurück und fragte, wer von uns gerne isst. Ich dachte jetzt gibt es vielleicht Schnittchen, dabei kamen wir gerade satt von einem Besuch bei McDonald. Als eine Schulfreundin und ich uns meldeten, sagte sie „Gut. Ihr fahrt nächste Woche nach Spanien.““ Mit dem Shuttlebus ging es zum Flughafen Hahn, von dort nach Gerona und weiter ins 75 km entfernte Roses. „Im Hotel haben wir die Präsidentesuite bekommen“, schwärmt Steffi noch Tage später. Lange konnten Sie den Luxus nicht genießen „Nach drei Stunden ging es dann zum Restaurant, wo uns Herr Adriá empfing, die Küche zeigte und uns ein Kochbuch mit Widmung schenkte. Von der Terrasse hatten wir einen tollen Blick auf die Bucht.“ Wie hat es den beiden gefallen? „Einzigartig. Besonders toll war das Dessert: Blumen auf Zuckerwatte und eine handgroße Blüte in weißer Schokolade. Gegen Mitternacht ging es zurück ins Hotel und morgens um 6 Uhr mussten wir schon wieder zurück zum Flughafen.“ Buergel ist, wie er schmunzelnd verrät, überzeugt, dass die Teenager den Besuch „ihr Leben lang nicht vergessen und künftig ihre Umwelt kräftig mit Gourmetthemen belästigen“.
Wer heute bei Ferran Adria buchen will, erfährt auf der Website, dass alle Plätze der Saison ausgebucht sind. Eine Warteliste wird nicht geführt. Doch auch sonst finden sich in Katalonien Spitzenköche wie Santi Santamaria, der im Can Fabes in San Celoni auf dem Weg zwischen Barcelona und Girona die moderne Regionalküche Kataloniens zelebriert. In der kulinarischen Hochburg Gerona schlägt Joan Roca im El Cellar de Can Roca mit seinen spektakulären Gerichten eine Brücke zwischen Tradition und Moderne. In Barcelona begeistert Adrià-Schüler Carles Abellán im schummrigen Comerç 24 mit katalanischer Küche, die sich von fremden Küchen aus aller Welt inspirieren lässt. Auch weiter südlich im schmucken Cambrils bei Tarragona tut sich einiges. Im Rincón de Diego bereitet Diego Campos traditionelle Küche mit Zutaten aus dem Meer, während Sohn Ruben im benachbarten Club Náutico de Cambrils diese sympathisch-frisch und jugendlich interpretiert. Joachim Koerper, ein gebürtiger Saarländer, hat es vor Jahren nach Spanien verschlagen, wo er im andalusischen Moraira zwei Sterne erkochte. Jetzt ist er den halben Monat im La Gigantea des schmucken modernistischen Luxus-Boutiquehotels Mas Passamaner bei Reus.
Auch wenn man nicht unbedingt immer einen Platz bei Adriàs Kollegen bekommt – so langwierig wie im elBulli sind Tischreservierungen sonst in der katalanischen Sternegastronomie (noch) nicht. |